Tag 117 / So 2.12.2018 / Buenos Aires
(Cornelia) Am Nachmittag findet das „Mate-Experience“ im Stadtteil San Telmo statt. Also bietet es sich an, vorher dort auf der Feria de San Telmo, einem Kunsthandwerker-Straßenmarkt vorbeizuschauen. Schon gleich einen Block nach der Kathedrale ist die Straße (Defensa) für den Verkehr gesperrt. Es gibt u.a. viel Gehäkeltes (z. B. Barbie-Kleidung), kreative Handtaschen, die alte Schallplatten verwenden, viele Lederwaren, Mate-Becher, sehr viel Schmuck. An einer Kreuzung gibt es Straßenmusik: Bandoneon und Cello, Tango in Reinkultur – sehr schön! Wir schlendern durch das lockere Gedränge, durchaus im Bewusstsein, dass es ein Dorado für Taschendiebe sein könnte – und merken letztlich doch nicht, dass mir jemand den Rucksack öffnet. Puh, welch ein Schreck, welch unangenehmes Gefühl, ich komme mit der Atmung aus dem Takt… Die Brille ist noch drin, das Etui voll... uff. Zunächst denke ich, dass nur die StreetArt-Karte fehlt; erst Stunden später, zuhause, fällt mir ein, dass ich ausnahmsweise meinen eBook-Reader eingesteckt hatte – so ein Mist – klar, der ist weg. Sehr ärgerlich! Immerhin ist der Nachmittag wegen des Kartenverlustes nur ein bisschen belastet – ich lebe ja noch mit dem Gefühl „Glück gehabt“! Mit etwas weichen Knien betreten wir die schöne Markthalle von San Telmo.
Die Straße öffnet sich zu einem Plätzchen, das die Antiquitätenhändler beanspruchen. Hübsch, von niedriger Kolonialarchitektur umstanden, etwas verfallener Charme. Aber uns ist die Lust vergangen. Wir flüchten uns ins nahegelegene Museo del Arte Moderna de Buenos Aires. Das Café ist sehr stylisch und fast leer – das tut gut. Eine Ausstellung schaffen wir noch vor unserem Termin. Eine Modeschöpferin/Malerin wird gewürdigt: „Delia Cancela, Reina de Corazones 1962 2018“. Sie ist 1940 geboren, arbeitete und wohnte in Paris, London und New York und hatte zusammen mit ihrem Partner Pablo Mesejeán (+ 1986) große internationale Erfolge. Obwohl in der Modebranche tätig – oder vielleicht gerade deshalb – ging es ihr immer auch um die Frauenfrage. Einen Saal der permanenten Ausstellung sehen wir uns auch noch an. Sämtliche Künstlernamen sind uns unbekannt, in Lateinamerika ist man mit seinem eurozentristischen Weltbild und Kenntnissen völlig ausgehebelt.
Es ist nicht weit zu Pablo, der über Airbnb Einführungen in Mate und Mate-Tee-Trinken anbietet. Die zwei Stunden vergehen ruckzuck: Pablo ist gut organisiert, kennt sich aus, hat eine tolle Präsentation vorbereitet, vier Mate-Tee-Packungen stehen bereit (Campo, Campo y Monte, Monte und Barbacóa – mit steigender Intensität), Feigen, Nüsse, Plätzchen und anderes Kleingebäck ebenso. Er zeigt uns, wie die Blätter in den Becher gefüllt, dann mit einem Schluck kalten Wassers angegossen werden; etwas ziehen lassen, dann mit heißem Wasser (80 Grad warm) aufgießen und mit der Bombilla, einem Metallstrohhalm mit angebautem Sieb, schlürfen. Er selbst trinke Mate täglich literweise. Hm, ob wir jemals so weit kommen? Das Gebräu schmeckt schon recht bitter, immerhin soll es dem Magen gut tun. Koffein enthält es ungefähr genauso viel wie Kaffee. Wir saugen uns durch die vier Sorten und bekommen dann die Wunsch-Sorte frisch aufgebrüht. Der Becher kreist, denn Mate ist hier auch ein soziales Event, wenn Besuch klingelt oder die Familie zusammenkommt. Das Gespräch mit Pablo fließt unangestrengt auf Spanisch dahin; er reist gerne, war öfter schon in Europa, hat spanische Vorfahren, interessiert sich sehr für Geschichte. Seine Frau, Sängerin, sei gerade im selben Museum, aus dem wir eben kämen. Für den Fall, dass er nach Deutschland reist, versprechen wir ihm statt Rauch-Mate (= Barbacóa) eine Bierprobe, u. a. mit Rauchbier aus Bamberg, dem Schlenkerla. Sehr nett war es bei Pablo!
Tag 124 / So 9.12.2018 / Buenos Aires
Wieder haben wir kostenlose Konzertkarten, dieses Mal in der sog. Usina del Arte (frei übersetzt: Kulturfabrik – wie in Roth...), einem Kulturzentrum am Rande des Stadtteils La Boca, auf dem Gelände eines ehemaligen Elektrizitätswerks entstanden. Auch hier gibt es – wie im Centro Culturál Borges und im Kirchner – gleich mehrere Konzertsäle in allen Größen. Unser Konzert findet im Kammermusiksaal statt: Fünf Jahrhunderte Spanische Klaviermusik!
Die Pianistin – derzeit in Australien lebend und auf Weihnachtsbesuch bei den Eltern – ist Dozentin und spielt sehr versiert und einfühlsam. Gleichzeitig ist es auch wieder ein kommentiertes Konzert, weswegen wir auch einiges über die spanischen Komponisten (Albeníz, Granados, Tarega und de Falla) erfahren.
Auf dem Weg ins MACBA (Museo de Arte Contemporaneo de Buenos Aires) sehen wir die Tristesse von La Boca… puh, ein ziemlich ärmliches Viertel, man sieht es an den Autos (Karren…), den Häusern (mit Schäden, abgeblätterter Putz) und an den Bewohnern selbst (Kleidung, Herumlungern). Das MACBA bietet nichts wirklich Interessantes, vermittelt aber den Eindruck, neueste Kunst auszustellen, obwohl das Neue eher bei 1970 stockt. Im danebenliegenden MAMBA (Museo de Arte Moderno de Buenos Aires) fehlen uns noch ein paar Räume, die wir durchstreifen und feststellen, beim ersten Besuch die interessanteren schon gesehen zu haben.
Eigentlich würde es ja für heute schon reichen, aber da die Anfahrt zu irgendwelchen Museen aufgrund der Größe von Buenos Aires fast immer um die fünfzig Minuten dauert, wollen wir das ethnografische Museum (Museo Etnografico - Juan B. Ambrosetti) noch ‚anhängen‘. In der Nähe der Bushaltestelle sehen wir in einem Park Perón beschwörend die Hände heben und sein Volk grüßen. Das Museum ist in einem schönen Bau vom Anfang des 19. Jahrhunderts untergebracht und wird von der literarisch-philosophischen Fakultät der Universität betreut: Sie hat nämlich auch einen anthropologischen Zweig! Uns interessiert weniger die Forschungsgeschichte (was um 1900 und länger bedeutet: Feldforschung betreiben, Objekte sammeln und in Schaukästen aufreihen), sondern vielmehr die Vitrinen zu präkolumbianischer Kunst. Hier haben wir große Lücken, wissen nichts über die geographische Situtation und kennen weder Anfang noch Entwicklung und Ende dieser großartigen Kultur. Die Objekte sind thematisch geordnet und nicht allzu redundant. Interessant, dass alle Kulturen, sobald sie handwerklich dazu in der Lage sind, beginnen, ihre Alltagsgegenstände zu verzieren. Präkolumbianisches Thema sind Lamas, die aufgrund ihrer Multifunktionalität (Transportmittel, Kleidung, Nahrung) entscheidend zur Entwicklung der Kultur beigetragen haben. Bald werden wir nach Patagonien reisen – dieses Museum war ein netter Einstieg!