Donnerstag, 7.12.23: Monte Sirai und Isola Sant‘Antioco

Die Wettervorhersage ist für den heutigen Tag sehr gut und bewahrheitet sich: blauer Himmel mit einigen Wolken, viel Sonne bei 15 Grad und kein Niederschlag. Nichts wie weg! Wir haben uns vorgenommen, die Insel Sant‘Antioco – ganz im Südwesten – zu umrunden und auch die beiden größeren Ortschaften zu besuchen. Vorher entdecke ich aber im Reiseführer gerade noch rechtzeitig ein weiteres Ziel, die Ausgrabungen auf dem knapp 200 Meter hohen Tafelberg Monte Sirai, wo wir, wenn die Eintragungen im Besucherbuch stimmen, in dieser Woche die ersten Besucher sind. Eine Dame empfängt uns sehr freundlich und erklärt uns den Weg durch die Ruinen aus dem 7. Jh. v. Chr. anhand einer plastifizierten Karte. Die Grundrisse der einstigen Siedlung sind deutlich zu erkennen; vorerst jedoch erfreuen wir uns am meisten an der tollen Aussicht: auf die Berge um Carbonia und Iglesias und, zur anderen Seite, auf die beiden mehr oder minder kleinen Inseln Sant‘Antioco und San Pietro.

Was wir aber bisher auf unseren Reisen noch nicht gesehen haben, sind die beiden Nekropolen aus phönizischer und punischer Zeit. Natürlich sind alle Gräber leer, die entsprechenden reichlichen Grabbeigaben längst in Museen (Amphoren mit Wasser/Wein, Ringe, Fibeln, Ketten usw. ); die Phönizier bestatteten ihre Toten eher in Gräbern wie heute, während die Punier in die Tiefe gruben: So eine Art Kellerabgang führt nach unten in die Grabkammern. Ungefähr zehn Kammergräber gibt es zu sehen. Zurück am Eingang nehmen wir noch etliches archäologisches Prospektmaterial und andere Informationsschriften gratis mit und kaufen der Dame auch noch eine archäologische Landkarte Sardiniens auf Deutsch ab – private ABM-Maßnahme sozusagen.

Carbonia hätte als Planstadt – unter Mussolini angelegt – ein interessantes Zentrum und außerdem ein Bergbaumuseum zu bieten, aber wir streben jetzt inselwärts. Während San Pietro nur mit dem Boot/der Fähre zu erreichen ist, ist Sant‘Antioco über einen Damm mit Fahrstraße angeschlossen, der an flachen Meeresbecken vorbeiführt, in denen sich viele Flamingos aufhalten und auf ihren langen Beinen im seichten Wasser herumstaksen.

In der Basilika des Hauptorts befinden sich Reliquien des Sant‘Antioco – wir hasten in Richtung Kirche, weil sie wohl um 12.30 Uhr schließt. Nein, das schaffen wir doch nicht, stellen wir auf halber Höhe fest, aber in der Nähe ist im Stadtplan noch ein Museo del Bisso eingezeichnet, angeblich bis 13 Uhr offen. Bisso?? Wird sicher noch geklärt werden… Dass it. ‚bisso‘ zu deutsch ‚Byssus‘ genannt wird, hilft uns nicht wirklich weiter. Überhaupt – gibt es das Museum noch? An der Tür hängt ein handschriftlicher Zettel: „Hier wird nichts verkauft!“ Hm… rätselhaft… Da entdecke ich an der Seite ein Plakat, das Chiara Vigo zeigt – und mir fällt es wie Schuppen von den Augen: Natürlich, das ist sie, eine der letzten Muschelseidenspinnerinnen der Welt…! Über sie stand doch eine ganze Seite in unserem Reiseführer.

Chiara Vigo ist nicht allein. In ihrer Nähe sitzen eine jüngere Frau und ein schwer zu schätzender Mann, beide über Stick- bzw. Webrahmen gebeugt und auch Chiara Vigo selbst stickt an einem Tuch. Sie bietet uns an, uns zu setzen, und so sehen wir den Dreien einfach ein bisschen zu. Man stellt uns ein paar ‚Eisbrecher‘-Fragen und dann fängt Frau Vigo an zu erklären. Sie erzählt von den 27 Generationen vor ihr, die dieses Handwerk auch schon betrieben haben, von dem mühsamen Auffinden und Sammeln des passenden Rohmaterials, nämlich Haftfäden aus dem Sekret einer bestimmten Muschelart, der Edlen Steckmuschel (pinna nobilis). Weil man jede Menge dieser Haftfäden braucht, ist Muschelseide sehr wertvoll und wurde früher für die Kleidung von Königen und geistlichen Würdenträgern verwendet. Die zottigen dunkelbraunen Haftfäden werden getrocknet, gereinigt und dann mit einer einfachen Drehspindel zu einem Faden gesponnen. Im weiteren Verlauf wird der Faden gedoppelt, wieder verdreht und gestreckt, in eine Flüssigkeit getaucht, deren Herstellung Betriebsgeheimnis ist (Algen, Meerwasser, Zitrone und Cedro-Zitrone…) – und plötzlich ist der Faden elastisch und schimmert golden…! Von einem gehäkelten Deckchen aus Muschelseide – federleicht – mache ich im Lampenlicht ein Foto.

Die nötigen Handgriffe sind ritualisiert und werden zum Teil von Summen, teils von Zaubersprüchen oder Gesängen begleitet. (Insgesamt kam mir der Gedanke, es in Chiara Vigo mit einer Art Schamanin zu tun zu haben. Die geäußerten Laute klangen auch recht mystisch.) Als der Faden fertig ist, schenkt sie ihn uns und packt ihn noch in ein Papier, auf das sie ein stilisiertes sardisches Huhn zeichnet und unterschreibt. Wir sitzen etwas verdattert da, denn so eine intensive und persönliche Vorführung hatten wir in einem ‚Museo‘ nicht erwartet! Frau Vigo macht sich große Sorgen um aussterbendes kulturelles Wissen und ihr Handwerk im Speziellen. Als ich sage, dass Tom und ich zwar nichts manuell herstellen würden, aber doch wenigstens unsere Finger zum Musizieren nützten, tauen alle im Raum auf und fragen nach unseren Instrumenten. Und Frau Vigo zeigt uns noch ein Erbstück von ihrem Großvater, eine sardische Rohrpfeifenflöte, auf der man dreistimmig spielen kann. Sehr interessant, ich hatte schon von diesem volkstümlichen Instrument gelesen… Mittlerweile ist es kurz vor eins; wir lassen noch eine ‚donazione‘ für die Handarbeitsschule da, die sehr gern gesehen wird. Tom und ich sind uns einig: Diese Begegnung war jetzt 1000 Mal bereichernder, als noch ein paar Reliquien im Glasschrein zu sehen…!

Unser Ritual um diese Tageszeit heißt Espresso e dolce; wieder am Auto angelangt ‚bewundern‘ wir noch eine unglaublich kitschige Weihnachtstroika auf dem zentralen Platz und beginnen die Umrundung der Insel. In manch einer Bucht an flacher oder steiler Küste, halten wir an, sehen uns durch das Fernglas Küste und Capo am Festland an, gehen spazieren, blicken aufs leuchtend-blaue Meer, erspähen einen Leuchtturm mit dem Namen ‚Mangiabarche‘, dem Bootsfresser – nicht der Leuchtturm, sondern die Untiefen werden wohl früher die Barken ‚gefressen‘ haben.

Im zweiten Ort der Insel sowie Fährhafen zur Nachbarinsel, Calisetta, ist gar nichts los. Es ist eine Planstadt mit rechtwinkligen Straßen, vom damaligen savoyischen König angeordnet. Inzwischen hat sich der Himmel bezogen, aber als wir im Hafen sind, lugt noch einmal die Sonne hervor und sorgt für Spiegelungen im besten Fotografier-Licht.

Kurz vor 18 Uhr suchen wir – in tiefster Finsternis – noch die ortsansässige Cantina von Iglesias; drei Flaschen gehen mit, und der Wein erweist sich im Lauf des Abends als ganz anständig. Der junge Verkäufer erinnert uns daran, dass morgen Feiertag ist: Maria Immaculata, das Fest der Unbefleckten Empfängnis. Laut Wettervorhersage soll es Dauerregen geben, mal sehen, ob das zutrifft – wir sind gerüstet, der Kühlschrank ist gut gefüllt.


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