Sonntag, 19.11.2023: in Segesta und Nuova Gibellina

Nach einem gemütlichen Vormittag fahren wir ins nur sechs Kilometer entfernte Segesta, um die noch ausstehende letzte der drei Tempelanlagen auf Sizilien anzusehen. Kaum verlässt man Calatafimi, fällt auch schon der Blick auf den Tempel – aber nur so kurz, dass Tom als Fahrer keine Gelegenheit dazu hat. Schon schieben sich zwei Berge zwischen den Tempel und unseren Blick. Wir bekommen das übliche Gratis-Billett und zahlen den Bus, dessen Fahrer sich schon hinterm Steuer die Sonnenbrille aufsetzt – husch, husch, wir steigen ein. Zu Toms Erstaunen fahren wir am Tempel vorbei; seine Reiseleiterin hat nicht erzählt, dass es auch noch ein antikes Theater gibt… und eine Burg aus byzantinischer Zeit… und eine Moschee aus der arabischen Besetzung… und eine christliche Kirche aus dem 15. Jahrhundert… sorry! Fünf auf einen Streich!

Der Bus fährt an einem Gebiet voller kleinwüchsiger Palmen vorbei, die offenbar vor nicht allzu langer Zeit gebrannt haben. Oft sehen die Stümpfe wie Skulpturen mit ruppiger Haut aus, aber schon regt sich wieder grünes junges Leben zwischen den verkohlten Stämmen. Ein toller Kontrast!Wir steigen in windiger Höhe zum Theater und genießen den Blick in Richtung Meer und Castellamare: Weinberge, Ackerland, schroffe, kahle Bergesgipfel, eine blaue Bucht in der Ferne. Das Theater selbst ist viel steiler in den Fels geschnitten als beispielsweise das von Agrigent. Die Zuschauer sitzen – auch heute noch, weil es im Sommer zu Theaterfestspielen genützt wird – in schwindelnder Höhe und blicken in die weite Landschaft. Wir stellen uns vor, wie aufgeheizt die Sitzreihen sich dann anfühlen mögen… Das kennt man ja schon von Verona – und das liegt in Norditalien!

Der Bus bringt uns auch wieder den Berg hinunter, das ist ein schöner Service für Fuß-, Rücken- und sonst wie -lahme und auch gut organisiert. Der Tempel weist wieder eine dorische Ordnung auf, hat aber kurioserweise nicht den geringsten Ansatz einer Cella, was den Forschern Rätsel aufgibt.

Wir denken nicht weiter über die Cella nach, sondern geben im Navi ein neues Ziel ein: Gibellina Vecchia, das 1968 durch ein Erdbeben völlig zerstört wurde und dessen Reste in 160 Zentimeter hohe Betonquader eingegossen wurden, unter Beibehaltung der alten Straßenzüge, um auch deren Enge zu dokumentieren. Alberto Burri (ein sehr bekannter Künstler) hatte die Idee dazu, ein rühriger kommunistischer Bürgermeister unterstützte ihn in seinem Projekt. Wir sind schon sehr gespannt, verlieren aber durch Navi-Lenkung über chaotische Straßen und fehlende Straßenschilder – vermutlich auch Erdbebenopfer… – so viel Zeit, dass wir schließlich, in Nuova Gibellina angelangt, eine kleine Denkpause einlegen.

Und immer, wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her – heißt es. Das Lichtlein gestaltet sich in diesem Fall als Hinweisschild auf das Museum für Gegenwartskunst; angesichts des Wegweisers fällt mir wieder ein, darüber gelesen zu haben: Der schon erwähnte kommunistische Bürgermeister hat nämlich mittels einer Kampagne alle möglichen Künstler zu Werk-Spenden für sein Dorf bewegen können, weswegen Nuova Gibellina jetzt nicht nur jede Menge open-air-Kunst besitzt, sondern auch ein äußerst gut bestücktes Museum. Mit uns besuchen noch drei weitere Personen das Museum; wir erhalten einen Plan für innen und außen, und im ersten Saal werden Modelle von Skulpturen oder Kirche, Theater etc. ausgestellt, von denen wir später einige auch realiter sehen. Einiges ist anrührend, weil häufig Zitate von Künstler*innen zu lesen sind, die beteuern, wie sehr oder in welcher Richtung sie das Erdbeben emotional bewegt und inspiriert hat. Vieles ist auch interessant oder einfach schön.

Wieder draußen setzen wir uns ins Auto und stoßen schon bald auf eine Kirche, deren Modell wir schlichtweg für unrealisierbar gehalten hatten… Nein, da ist es, in voller Größe, die Kirchenglocken rufen auch gerade zum Abendgottesdienst. Eine weiße Kugel, drumherum eine Art open-air-Theater, ein Kubus, ein nach unten offener Eisenkäfig für die Glocken. Die ersten Gottesdienstbesucher sind schon im Kirchenraum, man sieht durch die markanten symmetrischen Kirchentore direkt in den Altarraum, die weiße Halbkugel, hinein. Sehr interessante Idee!

Übrigens ist einige Jahre nach der Vollendung das Kirchendach eingestürzt und erst mal lange nicht saniert worden. Ein anderes Gebäude, nämlich das Theater, liegt ebenfalls brach: Es sieht aus wie eine riesige Art-Brut-Ruine; offenbar gab es auch mal den Anfang von Theaterfestspielen, aber auch das war nicht von Dauer. Gegenüber ist ein moderner ‚meeting point‘ in kühlem Stahlblau mit viel Glas, drin eine Bar, die versucht, mit künstlichen Blumengirlanden die abweisende Gestaltung abzumildern. Aber – immerhin – halten sich auch Leute am Tresen auf, die im Gespräch sind und wir bekommen einen wie immer excellenten Espresso.

Gleich in der Nähe ist noch ein Projekt umgesetzt, ein sog. System von Plätzen. Es mutet wie die Umsetzung einer Utopie an, über die sich viele den Kopf zerbrochen haben, vielleicht auch der kommunistische Bürgermeister. Irgendwie wirkt der fast menschenleere Platz in sinnloser Form und Funktion wie vom real existierendem Sozialismus übrig geblieben. Ich muss allerdings zugeben, dass laut Wikipedia die Bevölkerung Nuova Gibellinas in den letzten 20 Jahren um die Hälfte geschrumpft ist. Statt 6.000 nur noch 3.000 – und selbst für 6.000 wären die Plätze zu groß gewesen… Wenigstens spielen ein paar Kinder hinter einer Folge von zwei Mal vier, von Palmen bekrönten Stufenpyramiden in weiß, Verstecken.

Insgesamt sind wir mit dem Nicht-Finden des einbetonierten Dorfs durch die Entdeckungen in der Neustadt ausgesöhnt und fahren zufrieden nach Calatafimi, wo wir im Restaurant „Terra mia“ einen Salat und zwei wunderbare Pizzen serviert bekommen, deren Hälften uns morgen noch ein weiteres Abendessen sichern.


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