Samstag, 18.11.2023: Fahrt von Agrigent über die Scala dei Turchi, das Castello Incantato und Selinunt nach Catalafimi

Entgegen Toms Befürchtungen, die schmale steile Straße vor unserem Apartment wegen des Einpackens zu blockieren und für Ärger der Anwohner zu sorgen, klappt alles wunderbar: Ein Autofahrer wartet einen Augenblick, ohne sich zu aufzuregen: Jeder der Einwohner Agrigents kennt die schwierigen Umstände in der Altstadt. Bald schon erreichen wir die Scala dei Turchi, eine sehr eigenwillige, treppenartige Kalksteinformation vor türkis-blauem Meer. Auch der Blick in die nächste Bucht ist durchaus sehenswert: Kreidefelsen, jedoch ganz anders als auf Rügen, italienisch halt.

Bezüglich des Castello Incantato, dem ‚verzauberten Schloss‘, zitiere ich ausnahmsweise einmal Wikipedia: Die Anlage ist „das Lebenswerk des in Sciacca beheimateten Künstlers Filippo Bentivegna (1888–1967). Es liegt zwei Kilometer östlich des Stadtkerns von Sciacca. Der sein Haus umgebende Olivenhain ist übersät mit in Stein gemeißelten und einigen in Olivenholz geschnitzten Köpfen. Diese Arbeiten gehört zur Art brut. Einzelne dieser Werke werden in der Collection de l‘Art Brut in Lausanne, der weltweit größten derartigen Sammlung, gezeigt.“ Ist doch erstaunlich, dass es ein frustrierter sizilianischer Bauernsohn zu solchen Ehren gebracht hat! Die große Enttäuschung widerfuhr im in New York, wo er von der Frau seines Herzens zurückgewiesen und dann von ihrem eifersüchtigen Freund zusammengeschlagen wurde. Seine Bauernkate hat er deswegen auch mit Wolkenkratzern bemalt und sich ansonsten mit den schweigenden Gesell*innen umgeben. Es ist schon eigentümlich, an den aufgereihten steinernen Köpfen vorbeizugehen. Man möchte mehr von der Psychologie dieses Menschen wissen… Mich erinnert die Szenerie auch entfernt an das Palais Idéal du Facteur Cheval in der Drôme, mit dem Unterschied, dass jener ganze Mythologien und Religionen in einem idealen Palast abzubilden versuchte, während dieser in einer archetypischen Darstellung verharrt. Jedenfalls sind beide, castello und palais, sehr sehenswert und auf ihre Art eindrücklich!

Wir fahren auf einer hervorragenden Straße weiter in Richtung Selinunt, wo uns wieder Tempel(reste) und ein Museum erwarten. Vorher überfällt uns allerdings der Hunger, und so halten wir statt nach dem Parco archeologico lieber nach einem Ristorante Ausschau. Die ideale Strandbar – ganz nah an Strand mit Meeresrauschen – wird gerade für die nächste Saison fit gemacht, aber ein Stückchen weiter empfiehlt sich ein Restaurant mit Saal im ersten Stock. Wir werden sehr nett empfangen und an extra für uns weit geöffnete Fenster platziert, so dass wir auch von hier aus mit dem Geräusch des Meeres unseren Insalata di mare verzehren können. Die Mutter des Restaurantchefs ist Schweizerin – wir ergreifen die Gelegenheit, sie nach dem Müllproblem auf Sizilien zu fragen. Antwort: Alles sei ja schon viel besser, kein Vergleich zu früher, man trenne doch schon vieles, aber es gebe leider immer noch Leute, die vor allem Elektro-Großgeräte gerne in die Natur entsorgen würden, weil es offiziell so schwierig sei. Aha, hm, man muss halt anrufen, wie auch in Deutschland… Ihre Tochter sei anders erzogen und habe sich einmal auf der ganzen Fahrt von Palermo nach Selinunt – 120 km – mit ihrer Mitfahrerin gestritten, weil diese nach dem Verzehr eines Arancino das zugehörige Einwickelpapier einfach aus dem Autofenster geworfen habe. Am liebsten hätte sie sogar das Studium abgebrochen… – In den Städten (groß und klein) funktioniert aber die Müllabfuhr, das haben wir überall feststellen können; es geht mehr um mangelnden Respekt gegenüber der Natur und gegenüber ordentlichen Mitmenschen.

In Selinunt verkauft man uns zum Eintritt gleich für einen Aufpreis auch den Transport in einem Golf-Cart vom Museum zum Tempel. Gerne – denn das Gebiet ist sehr weitläufig. Der erste Tempel liegt gerade wunderschön im schrägen Herbstlicht, dahinter, wie von Riesen à la Mikado hingeworfen, verschiedene Säulenabschnitte und andere Brocken mit und ohne Kanneluren. Das Museum, sehr schön in der Lagerhalle eines ehemaligen Weinguts untergebracht, betrachten wir eher kursorisch: viel Zerbrochenes, wie so oft, aber auch ein paar nette intakte Statuetten, und vor allem Steine mit der alten Farbfassung in Rot und Schwarz – der Tempelfries war auf jeden Fall bunt!

Das Golf-Cart mit Anhänger befördert uns und vier Italiener, die Lärm für zehn machen, ziemlich flott zum weit in der Ferne gelegenen nächsten Tempel, der mit seinen wuchtigen dorischen Säulen majestätisch in der Abendsonne auf seinem Sockel thront. Der größte Teil des Geländes von Selinunt ist sowieso noch gar nicht ausgegraben, weswegen sich gleich hinter dem Tempel wieder eine Zone von durcheinander gewürfelten antiken Steinquadern und Säulenteilen anschließt; wenn es einem gelungen ist, sich dort einen Weg zu bahnen, hat man einen wunderbaren Blick auf den Tempel und die dahinter liegende Bucht, die vor ihrer Versandung ein Hafen war. Im milden Herbstlicht sieht alles besonders schön aus. Mittlerweile ist niemand mehr außer uns auf dem Gelände; wir sind erleichtert, als wir nach kurzer Wartezeit ein Golf-Cart auftauchen sehen. Alles ist wirklich top organisiert! Wir müssen also nicht die Nacht auf harten Steinen im Ausgrabungsgelände verbringen.

Wegen unserer Verspätung um eine Stunde sagen wir unseren nächsten Vermietern Bescheid – gar kein Problem, ihr Sohn nehme uns in Empfang. Tom nimmt die finsteren Straßen in den Norden der Insel gelassen und meistert auch die letzten Serpentinen, bis wir unseren 6.000-Einwohner-Ort Catalafimi auftauchen sehen. Eine Bäckerei lässt sich auch noch finden und verhilft zu einem ersten Eindruck vom Ort. Besonders die Konditorei mit angeschlossener Bar ist sehr gut besucht; mehrere Leute kaufen ganze Platten voller Plätzchen – wir in Anbetracht der Kalorien nur bescheidene vier Stück. Weil wir uns nicht an riesengroße Tische mitten unter die Einheimischen setzen wollen, verbringen wir den restlichen Abend im neuen Quartier. Im Landesinneren ist es kühler als am Meer, die gefliesten Böden sorgen für kalte Füße. Ja, im Sommer wären wir froh drum…!


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