Am Morgen söhnen uns ein traumhafter Blick auf den neuen Ort Pentedattilo, die Schluchten vor uns, das blaue Meer und den Ätna in der Ferne mit dem vermeintlichen Fehlgriff in der Unterkunftsauswahl aus. Es ist doch schön hier, trotz des uralten Gemäuers muffelt es nicht, auch die kleine sechseckige Espressokanne ist da, auch wenn sonst manches fehlt (wie zum Beispiel mal wieder Weingläser!).
Noch vor Aufstehen und Ausblick lese ich in meinem Buch über die kalabrische Mafia, die sog. ‚Ndrangheta‘ weiter, was beinahe dazu führt, in jedem unschuldigen Gesicht einen Mafioso zu vermuten. Schlechte Vibes macht das, aber mein Interesse ist geweckt und je mehr ich darüber lese, desto stärker wird mein Kopfschütteln. Mir wird klar: Die Organisation ist stark hierarchisch strukturiert (das weiß freilich jeder); der Boss ist der oberste Befehlshaber über die Zweigniederlassungen (bis nach Norditalien, Deutschland, die Niederlande, Australien und Kanada) und gilt als ‚weiser Mann‘, der von einem kleinen Gremium gewählt und in einem Santuario (in Polsò) ins Amt gesetzt wird. Der Katholizismus spielt eine starke Rolle im Leben der Mafiosi – ein Geben und Nehmen (Segnungen, Heiraten…) – , denn die Kirche vertraut lieber den Mafiosi (eigentlich ‚‘Ndranghetista‘ in Kalabrien) als den Liberalen und Kommunisten. Papst Franziskus ist der erste, der bereit ist, aufzuräumen, denn auch die Vatikanische Bank dient der Geldwäsche. Sein Handeln beschränkt sich nach außen aber darauf, die ‚bösen Menschen der ‘Ndrangheta anzuprangern und zur erklären, dass die Kirche sie exkommuniziere. Hm, eine schwache Formulierung, wie mir scheint: Welcher ‘Ndrangethista wird sich schon selbst als schlechten Menschen bezeichnen und auf die Kommunion im Gottesdienst verzichten? Um Menschen an sich zu binden, sind für die Aufnahme Rituale geschaffen worden, die einer Taufe ähneln und Eide beinhalten, wohl auch stark rhythmisierte Formeln. Gleichzeitig regieren Elemente des Aberglaubens. Und: Man wird in eine solche Familie hineingeboren und hat keine Möglichkeit, der ‚ehrenwerten Gesellschaft‘ zu entkommen, außer man wird unter Gefahr von Leib und Leben zu einem ‚pentito‘, einem Aussteiger bzw. – andere Perspektive – Verräter. Insgesamt geht es um Herrschaft und Macht und um die jeweiligen Aufstiegschancen im Süden des Landes, wo Arbeitslosigkeit weit verbreitet ist. Kontakte – auch zu anderen Mafiagruppen – werden nach wie vor auch häufig im Gefängnis geknüpft, so dass der starke Arm des Staates unterlaufen wird. Bandenkriege, wie in den 70ern und 80ern des letzten Jahrhunderts, sind weitgehend vorbei, weil die ‚locale‘ (= Niederlassungen) europa- bzw. weltweit operieren und erst mal Chef-Diplomaten schicken statt sich abzuknallen. Weitere Erkenntnis: Haupteinnahmequelle ist der Kokainhandel, daneben vor allem die Abfallbeseitigungsindustrie. Das Augenmerk liegt offenbar oft darauf, zwei Mal an einem Deal zu verdienen: Wird das Kokain auf einem Schiff entdeckt, bietet man an, es als Müll zu entsorgen – und verdient so wenigstens daran. Natürlich geht es auch um Waffenhandel, um die Bauindustrie (erzwungenen Genehmigungen usw.), um die Monopolstellung im Agrohandel, manchmal auch um gepanschtes Öl oder Wein (das sind eher die kleineren Vergehen). Schlimmer ist der Müllhandel, was manchmal zu untergegangenen Schiffen mit Giftfässern an Bord führt (upps – da zahlt dann auch noch die Versicherung, klar…) oder zu verbuddeltem Gift unter Zitronenplantagen, wo sich dann in einem Ort auf einmal die Krebsrate signifikant erhöht. Mein Fazit: Das Buch der niederländischen Autorin, Sanne de Boer („ ‘NDRANGHTA Wie die mächtigste Mafia Europas unser Leben bestimmt“, 2020), das man über die Bundeszentrale für politische Bildung (www.bpb.de) günstig, weil bezuschusst, erwerben kann, ist sehr lesenswert, aber auch keine sehr beglückende Urlaubslektüre. Dennoch fühle ich mich in dieser Gegend fast ‚gezwungen‘, es zu lesen (vermutlich die Ethikerin in mir…). Witzig ist, dass Frau de Boer zu ihrem Thema wie die Jungfrau zum Kind kam: Sie hatte Lust, in Italien zu leben und ist zufällig in den Mafia-affinen und -aktiven Ort San Luca in Kalabrien gezogen; nach und nach dämmerte ihr erst, wo sie da als frische Hausbesitzerin gelandet war.
Mein Rücken ist nach den gestrigen Kilometern etwas labil, weswegen wir nur einen Mini-Spaziergang zum Parkplatz unternehmen, um noch manches nach oben zu holen. Währen wir ausräumen, spricht uns ein etwa 35- bis 40-jähriger Mann aus Sachsen-Anhalt an, der sich als ‚Privatgelehrter‘ bezeichnet, nach eigener Aussage vor allem an den Stätten der Magna Graecia interessiert ist und gerne philosophische Texte auswendig lernt. Er ist mit einem Dacia unterwegs, in dem er auch schläft, stöhnt aber ein bisschen über das laute Italien, in dem man nie seine Ruhe habe: Mal würden neben ihm Autotüren zugeworfen, mal sehe er sich umringt von einer Schafherde ohne Schäfer, aber mit mehreren Hütehunden. Er habe daheim alles aufgegeben, sei seit August unterwegs, finde aber Italien für die Überwinterung ungeeignet und suche nach einer Langzeitmiete. Es ist ganz nett, sich mit ihm zu unterhalten, aber so ganz genau wissen wir nicht, was wir von ihm halten sollen, weswegen wir uns dann doch alleine in unser Häuschen zurückziehen, Kaffee und später den leckeren Rosé-Sekt aus Cutrofiano öffnen und zwischen Lesen und Bewundern des farbenprächtigen Sonnenuntergangs abwechseln. Neben dem Ätna erscheint ein dunkles Wolkengebirge, das man fast für echte Berge halten möchte… Arancini aus Tropea warten noch im Kühlschrank auf ihren Auftritt, ein farbenfroher Karottensalat, orange mit grüner Petersilie, ist rasch zubereitet. So vergeht der erste Tag in Pentedattilo.