Sonntag, 29.10.2023: in Matera

Ein neuer Tag bricht an: Europa hat auf Winterzeit umgestellt, der Himmel ist – im Gegensatz zu gestern – wie blank geputzt und strahlend blau… und ich wittere den Duft der (wenigstens kurzzeitigen) Entlassung aus der ‚Liegehaft‘. Während ich bis zum Nachmittag noch brav in der Horizontalen verharre (und den nächsten Roman auslese, „Schönwald“, von Philipp Oehmke), darf ich zum Nachmittag einen Stadtgang wagen.

Es ist ja immer wieder erstaunlich, wie rasch man sich durch Liegen und Schmerzen ‚klapprig‘ und unsicher fühlt. Der glatte Stein, den kürzlich auch Micha in unserem Telefonat bezüglich Matera erwähnt hat, trägt auch nicht gerade zur (Tritt-)Sicherheit bei. Und natürlich ist in den Sassi sowieso alles krumm und schief. Aber der Ausblick auf die beiden Hügel mit ihren Höhlenbauten und die dahinterliegende Felslandschaft mit weiteren Höhlen ist schon faszinierend! Manch ein Höhlenhäuschen ließe sich kaufen, ‚vendesi‘ – puh, möchte man da wirklich zugreifen…? Jeden Stein, jeden Sack Zement, jedes Limo für die Arbeiter einzeln hintragen? Da muss man schon großer Optimist und Idealist sein! Doch wir sehen auch so manches piekfein renoviertes Gemäuer, immer Ton in Ton mit dem denkmalgeschützten Rest, und auch mehrere Baustellen. Es geht treppauf und treppab und gern wäre ich etwas fitter und weniger Klotz an Toms Bein, aber – seufz – so isses eben… Wir halten uns also mehr am Rand der beiden Sassi-Hügel auf, nützen jedes Mäuerchen zum Aufsaugen des Ausblicks und biegen irgendwann in die Hauptstraße der jüngeren Altstadt ein. Leider muss ich auf die interessante Futurismus-Ausstellung und auch auf zwei weitere vielversprechende Museen verzichten und offenbar mich im ‚nicht‘ machen üben.

Andererseits lockt eine Eisdiele mit Wahnsinnssorten wie Khaki-Rum-Schokolade und Mandarine-Basilikum. Herrlich, zumal wir auch noch gleich einen Sitzplatz bekommen.

Die vielen Kirchen betrachten wir nur von außen: Auffällige Fassaden mit vielen Figuren und Voluten. Am faszinierendsten finde ich einen ovalen Kirchenbau, relativ schlank und zierlich. Überall Totenköpfe – an der Kirchenpforte, darüber, an der Seite, im ersten Stock – ja, was ist denn das? Halloween? Erhellung bringt google: Es handelt sich um die Chiesa del Purgatorio, d.h. die Darstellung des Fegefeuers. Echter Gruselbarock!

So, erst mal genug gesehen, den Duft der Freiheit und Gesundheit geschnuppert… hinlegen, ausruhen. Unser netter Vermieter, der mit Frau und drei kleinen Kindern über uns wohnt (ja, da ist Leben in der Bude…!), kündigt per WhatsApp an, dass er uns am Abend Esskastanien und Wein aus dem kalabrischen Cirò auf die Brüstung zum Kellerabgang stellen wird. Dort liegt sozusagen unser Kommunikationspunkt; vor zwei Tagen hat er hier auch schon mal sehr leckere Focaccia für uns abgelegt.

Abends stellen wir unser Auto noch einmal im selben Parkhaus wie am Nachmittag ab. Seit gestern schon ist ein Tisch im Restaurant „La lopa“ reserviert (Micha und Thomas, danke noch mal für den Tipp!). Eine ‚lopa‘ ist ein Eisenhaken, den man früher brauchte, um Wassereimer aus der Zisterne hochzuziehen. In selbige kann man heute durch eine Glasscheibe im Boden schauen, und höhlenartige Gasträume schließen sich bis in 18 Meter Tiefe, einer an den anderen, an. Wir haben Mitleid mit den Kellner*innen…! Das Essen ist zum Teil wohl typisch für die Basilikata (u. a. Dicke-Bohnen-Creme mit Zikorie, Involtini di melanzane, handgemachte Orecchiette, Bäckchen vom schwarzen Schwein, dazu ein sehr aromatischer Zucchini-Flan), und Tom probiert ein sehr malziges lukanisches Bier, birra artigianale. Vieles trägt hier noch den alten lateinischen Namen der Gegend, Lucania. Bei fast vollem Mond werfen wir noch einen Abschiedsblick auf die schwach beleuchteten Sassi und geloben eine nächste Reise in die Basilikata. Morgen wenden wir uns Kalabrien zu!


Beitrag veröffentlicht

in

,

von

Schlagwörter: